Christian SchneegassKREUZUNGEN qualifizierender Interaktionen und Formungsprozesse |
Unser Projekt KREUZUNGEN greift ein Phänomen der Gegenwart auf. Dabei handelt es sich aber weniger um ein nonchalant unengagiertes Mischungs-Phänomen postmodern beliebiger 'cossings' von vielfältig divergierenden Haltungen und unvergleichlichen Lebensumständen, wie sie das Patchwork unserer Zeit begünstigt. KREUZUNGEN sucht stattdessen vielmehr ein eher vergessenes Bemühen zu aktivieren, nämlich wenigstens situative Verbindlichkeit durch konzentrierte Zuwendung und inhaltliche Verschränkung zu erreichen. Es ist der Versuch, temporär Inseln zu schaffen für zwischenmenschliche Begegnungen und differenzierende Annäherung von unterschiedlichen Standpunkten, Erfahrungs- und Wissenswelten. Gegenseitiges Zuhören und Verstehen soll angeregt werden. Dabei reizen uns individuell erworbene Kompetenz im Kontext anschaulich überprüfbar vermittelter Strukturen, Modelle und Konzepte mehr, als ausschließlich wissenschaftstheoretische Diskurse. Uns interessiert vielmehr das Potential gegenseitiger Anregung und gemeinsamer Gestaltung, das Initiieren qualifizierender Entwicklungen, frei von Leistungszwängen und dem Druck Erkenntnis hemmender oder sie gar verhindernder gesellschaftlicher Erwartungen. Das experimental-studio sucht, wie in allen Projekten zuvor, aus konkreten Erfahrungen immer wieder Erkenntnisse zu gewinnen, um konzeptionell davon auszugehen und sie in neuen Räumen oder Kontexten sukzessive dialogisch weiterzutreiben. Im Kontrast zur immer einflußreicheren Medienwirklichkeit oder in historisch geprägten Environments soll dabei durchaus auch das eigene 'Natursein' und der Umgang mit der Gegenwart primärer Wirklichkeiten ausgleichend eine neue Gewichtung erfahren. Dieser Aspekt ästhetischer Untersuchungen und Ortsbefragungen des experimental-studios wird nun im 'Fadenkreuz' gemeinsamer Gespräche zwischen Kunst und Medizin nicht ohne Belang sein. Wir wollen also vor allem Gelegenheit bieten, einmal mitten im Strom der Zeit und allermöglichen Verpflichtungen innezuhalten, Besinnung und Einsichten zu ermöglichen, die in der Passage quantitativer Informationsbewältigung gezwungenermaßen 'auf der Strecke bleiben' müssen. Es gilt in unserer immer schnellebigeren Zeit vermehrt 'Raum zu geben', Raum für Reflexionen über unterschiedliche im 'Hör-Saal' zur Anschauung gebrachte Projektionen individuell gewonnener Erfahrungen, Einschätzungen und sich bewährender Wissenszusammenhänge. Dabei wird sicherlich auch 'die Frage im Raum stehen', ob es trotz aller individuellen Freiheit, trotz des latenten Relativismus infolge permanenter Veränderungen überhaupt noch etwas Beständiges oder bewußtseinsmäßig immer Wiederkehrendes geben kann, und sei es auch nur eine Vereinbarung, ein Vertrag, Gesetz oder gar die biblischen Gebote, die erst ermöglichen, Orientierungs- und Sprachlosigkeit oder auch Handlungsunfähigkeit zu überwinden. Wenn ja, inwieweit träfe dies auch auf menschliches Verhalten zu? Könnte man dann sowohl in der Kunst als auch in der Medizin vielleicht doch Grundmuster oder Koordinaten ausmachen, an denen sich menschliche Grundbedürfnisse erkennen und vielleicht auch Parameter für ein gutes oder besseres Leben objektivierbar beschreiben ließen? Wenn alle anderen Werte trotz geistesgeschichtlich bewährter Verankerung nun doch obsolet zu werden scheinen, dürfte diese Frage nicht unerheblich sein, auch, ob in der gedanklichen Verfolgung eines solchen, eher deterministischen Ansatzes unweigerlich immer nur Unfreiheit, die Gefahr von Mißbrauch und Unterdrückung bedeuten muß. Kann trotz aller individuellen Unterschiede eine solche Regel nicht auch das Moment von Sicherheit, artspezifischer Befähigung und damit die Freiheit zu etwas anderem in sich bergen? Geeignete Bedingungen für Wohlergehen richtig einzuschätzen und sich prophylaktisch oder im Nachhinein korrigierend dazu entsprechend zu verhalten, all das verbindet sich von jeher mit dem Begriff der 'Heil-Kunst'. Belange von Kunst und Medizin scheinen sich im Sinne der angesprochenen Themen und KREUZUNGEN aus Fragen, Thesen und Antworten (?) darin zu berühren und zu durchdringen. Auch wenn von der Kunst heute dieser hehre Anspruch wohl kaum mehr zu erwarten, geschweige denn zu leisten ist, so bleibt doch wenigstens der 'sezierend' kritische Ansatz einer Bewußtwerdung der gegenwärtigen Situation von Leben Geburt und Tod, Werden und Vergehen, das vergängliche Sein in Zeit und Raum eine Gemeinsamkeit mit der Medizin, d.h. der 'Gesundheitsvorsorge' sowie der 'Krankenbehandlung'. Wieweit sich solche Parallelen zu beiderseitigem Nutzen auch anders fruchtbar gestalten ließen, als nur in der sogenannten Kunst-Therapie, ist eine Frage, die wir Gelegenheit haben, in den nächsten Abenden und in möglichen anderen Kontakten zwischen Akademie und Charité auch zu ergründen. In den verschiedenen Vorträgen und Gesprächen der eingeladenen Referenten klingt auch jenes zentrale Problem mit an, das von jeher die Menschen beschäftigt hat. Die Rede ist vom Verhältnis zwischen Körper und Geist oder von der Frage: Gibt es eine Einsicht und Konsequenz aus organisch proportionierten Abläufen oder schockartigen Einbrüchen in bildnerische wie auch körperlich sichtbar werdende psycho-physisch einander bedingende Formungsprozesse? Sind diese dann nicht Prozesse des Denkens, eine Sinnerzeugung oder Sinnerfüllung durch Aufbau und Zerstörung, Bindung und Lösung, die durch die Sinne offenbar wird? Wie wirken dann Gefühl und Intellekt, Wissen und Handeln, Herz und Hirn zusammen und wie läßt sich dies aus beiden Perspektiven, sowohl der Kunst wie der Medizin, mit neueren Forschungsansätzen vergleichen und vermitteln? Was passiert, wenn uns die Sinne durch Unterforderung infolge reduzierter sinnlicher Erfahrungen als inkarnierte Medien unserer Wahrnehmung abhanden kommen? Proportional zu seinen natürlichen Fähigkeiten nimmt der Mensch aus rasch wechselnden oder sich langsam wandelnden Beziehungen heraus 'wahr'. Durch solche Impulse erfährt er stufenweise aufbauende Entwicklung und gewinnt buchstäblich 'fortschreitend' neue Erkenntnis. Daran erinnernd hat sich das experimental-studio, seit seinem Bestehen 1992, darauf konzentriert, allgemein eher vernachlässigte Beziehungsqualitäten im 'learning by doing" empirisch als 'work in progress' aufzuspüren und mit ästhetischen Mitteln gestalterisch in Projekten zu verfolgen. Es ist darum auch nicht verwunderlich, wenn dadurch bestimmte Namen von Mitwirkenden, deren 'Art' bzw. 'Kunst' sich als besonders kooperativ erwies, wiederkehren und mit denen neuer Teilnehmer "kreuzen", um unvorhersehbar spannende Entwicklungen auszulösen und kreativ umzusetzen. Beziehungsqualitäten gilt es also bei der Zusammenarbeit, in der Frage nach bestimmmten Verhältnissen in der Kunst als auch in der Wirklichkeit zu erkunden, dann aber vor allem erfahrbar gemacht durch die Kunst. Darum haben wir in diesem Programm seit unserer Echo-Kunst, den sogenannten "eco art Aktionen", mit denen wir vor Jahren gestartet waren, in wechsenden 'Versuchsanordnungen' immer wieder angestrebt, einen DIALOG zu finden, zu kreieren und neu zu eröffnen. Dialoge ermöglichen und ermöglichten wir bisher in 'Labor-Situationen', also exemplarischen Einzelaktionen oder größeren Veranstaltungsreihen, wie der diesjährigen, bei der Erforschung der Wirklichkeit als bereichernden Austausch zwischen jüngerer und älterer Kunst, zwischen den künstlerischen Disziplinen, zwischen Kunst und für diese besonders herausfordernden, historisch geprägten Orten Berlins, zwischen Künstlern hierzulande und anderer Kulturen, aber auch mit der Vorstellung und Diskussion neuer Medien (wie z.B. den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der Holographie in Kunst, Technik und Wissenschaft, 1996 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg). Nach vielfältigen Erfahrungen mit deutsch-japanischen, interdisziplinären und spielerisch durch Kunst initiierten "Raum-Dialogen" im alten Akademiegebäude am Pariser Platz 4 (1993-95) erweiterte das experimental-studio der Akademie der Künste darüber hinaus diese andernorts inhaltlich entsprechend auch auf Bereiche außerhalb der Kunst. So fand in der im Frühjahr 1997 gezeigten Installation KAWA/ FLUSS von Angelik Riemer und Masko Iso in der Ruine des alten Rudolf Virchow-Hörsaals der Pathologie der Charité-Mitte, auf die Spezifik des Ortes eingehend, erstmals auch eine Kontaktaufnahme zwischen Kunst und Medizin statt. Erneut zu Gast in der Charité, wollen wir diesmal jedoch als Pioniere einen für Kulturinteressierte bislang unentdeckten Ort einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Seit seinem Bestehen (1874-77) noch völlig intakt und für die Ausbildung von Medizinstudenten genutzt, wird dieser Robert-Koch-Hörsaal nun erstmals auch durch künstlerische Interventionen neu ins Bewußtsein gehoben. Leuchtende Malerei, ein blau-gelbes 'Crossover' horizontaler und vertikaler Pinselschwünge von Angelik Riemer 'durchkreuzt' in komplexer Anordnung einzelner Bilder aus komplementär einander rechtwinklig überlagernden Farbabstrichen den gesamten Raum, definiert ihn neu und ermöglicht für 14 Tage am Rande routinierter 'Spezialwissenschaftlichkeit' den 'ein-ander' hoffentlich 'erhellenden' Austausch zweier selten aufeinandertreffender Forschungsgebiete. Wieder in wechselnd integrierten und sich thematisch durchdringenden Veranstaltungen werden diesmal Experten in dem einen oder in beiden Bereichen zugleich über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse sprechend die Diskussion eröffnen. Die einzelnen Daten zu den vielfältigen, chiastischen Beiträgen entnehmen Sie bitte den Veranstaltungsübersichten. Analog zu Gregor Mendels Erbanlagenforschung wollen wir mit diesen vielschichtigen KREUZUNGEN erneut eher unkonventionelle aber dennoch notwendige Begegnungsformen erproben, um möglichst sinnstiftend durch sie überraschende Einsichten in fachübergreifende Zusammenhänge zu gewinnen. Dabei können Kunst und Medizin in ihren jeweils eigenen Formen zur Sprache gelangen und dennoch voneinander lernen. In nachbarschaftlicher Nähe zur künftig neu eröffneten Akademie der Künste am Pariser Platz hoffen wir auch 'quer' zur traditionsreichen Achse Unter den Linden, wo seit 1696 die Akademie der Künste von verschiedenen Stätten aus wirkte auf diese Art gegenseitig 'befruchtender' KREUZUNGEN. Ausgangspunkt ist wieder eine künstlerisch initiierte Versuchsanordnung, aber an einem anderen, gleichfalls historisch bedeutsamen, von seiner Geschichte aber noch sehr authentisch 'sprechenden' Ort. Alle sind eingeladen, diese seltene Chance zu nutzen, als Herausforderung für eine Verständigung zwischen Ethik und Ästhetik, Humanität und Verantwortung, Tradition und Fortschritt. Instrumentelle Medien sollten nicht wie das 'goldene Kalb' unserer Zivilisation vergöttert werden. Ihr gesellschaftsverändernder Stellenwert ist unbestritten. Sie werden aber dennoch gefährlich überschätzt, wenn sie zu sehr als Inhalte Bedeutung erlangen und dabei unmittelbar mitmenschlich engagierte Sinnerfüllung aus dem Bewußtsein verdrängen. Eine aktuelle Problematik für Kunst und Medizin, sieht man mal davon ab, inwieweit ebenso hemmungslose wie spurlose Kopier- und Multiplizierungsvorgänge den Wert des gewordenen Einzelnen, Geschichte und jede Form unterscheidenden Erkennens grundsätzlich zur Disposition stellen und nicht erst beim Klonen die Würde des Menschen anzugreifen beginnen. Ebenso gilt: "Bildung und Wissenschaft dürfen nicht instrumentalisiert werden", wie kürzlich ein Artikel von Hartwig von Hentig im Tagesspiegel überschrieben war (14.09.1998). Darin wird zurecht der Mangel an Gespräch, Disput und Verständnis, das Prinzip Wissenschaft schlechthin, nämlich als vernachlässigte organisierte Selbtkritik beklagt. Folglich, so mahnt der Artikel, liefern sich die Menschen somit ihren Erfindungen aus. Kein Wunder, wenn heute Lebenslügen, hybride Formen des Selbstbetrugs in nihilistischer Katastrophenverliebtheit dann jegliches Frühalarmsystem instinktiver wie reflektorischer Art betäuben, und das zugunsten entseelter Selbstzerstörung aus Spaß, Voyerismus und Langeweile. Hartmut von Hentig fordert darum vehement die Wiederentdeckung "lebendige[r] Lerngemeinschaften" in freien, von Fairness geprägten Erfahrungs-, Spiel- und Erkenntnisräumen. Sogenannte 'work-camps' könnten hilfreich sein, in gemeinsam herauszuarbeitenden sinnstiftenden Modellen und Erzählungen wieder zu versuchen, sich "das Ganze" zu erklären und zu verstehen. "Erfahrung von Verantwortung und Politik, von Arbeit und Abenteuer, vom Leben und von der Natur, von der Zugehörigkeit dieser heutigen Welt" sind Garanten für "Lebenstüchtigkeit", wie er sagt. Das experimental-studio hofft mit seinen KREUZUNGEN ein solches "work-camp" zwischen Kunst und Medizin zu ermöglichen und neue Gelegenheiten anzuregen, diese auch andernorts entstehen zu lassen. In diesem Sinne bleibt mir abschließend nur, uns allen in den kommenden 14 Tagen viele inspirierende Momente und vielleicht auch Brückenschläge über den Augenblick hinaus zu wünschen. Herzlichen Dank für Ihre geduldige Aufmerksamkeit. Besonderer Dank gebürt allen beteiligten Künstlern, Wissenschaftlern, Ärzten und Helfern namentlich vor allem Angelik Riemer, ohne deren großes persönliches Engagement diese grenzüberschreitenden KREUZUNGEN nicht möglich geworden wären, Prof. Göbel als Hausherr für das Gastrecht in der Charité, seine hilfreiche Unterstützung und Vermittlung zur Firma bioMérieux, der wir für das freundliche Sponsoring Dank sagen, sowie Michael Schoenholtz, dem Direktor der Abteilung Bildende Kunst, und Dieter Appelt für die aktiv sich engagierende Förderung des Projekts aus der Mitgliedschaft. Danken möchten wir ebenso dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin und der Schule für Tai-Chi-Chuan als Kooperationspartner, Volker Diehl von European Art Galleries und Diana von Hohenthal von der Galerie Hohenthal und Bergen für kooperative Hilfestellungen. Die Kreuzung ist freigegeben für die Begegnung von Kunst und Medizin, Körper und Geist, Bild und Wort.
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